Steinschneider reloaded

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Moritz Steinschneider gilt heute als der Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie. Aus Anlass seines 100. Todestages organisierte die Staatsbibliothek zu Berlin zusammen mit mehreren Forschungseinrichtungen eine dreitägige internationale Konferenz in Berlin. Das scheint auf den ersten Blick ziemlich weit weg zu sein vom Themenfeld unseres Weblogs – aber das täuscht.

Steinschneider perfektionierte vor über Hundert Jahren eine Kulturtechnik, die heute einem tiefgreifenden Wandel unterworfen ist: die Technik des Bibliographierens. Interessant dabei ist, dass es sich nicht einfach um eine Automatisierung der Arbeitsschritte handelt, sondern dass sich zur Zeit etwas ganz Grundsätzliches ändert.

Wenn wir auf die Geschichte des Bibliographierens zurückblicken, können wir zwei Entwicklungslinien beobachten: auf der einen Seite stehen die Anbieter von bibliographischen Informationen (vor allem Bibliotheken und kommerzielle Anbieter), auf der anderen Seite stehen die Nutzer von diesen Informationen (die Wissenschafter).

Die grosse Herausforderung für Wissenschafter bestand bisher darin, die zur Verfügung gestellten Daten in ein eigenes System zu transferieren und den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu ordnen und zu ergänzen. Dieses lokale, individuelle Informationssystem bestand lange Zeit aus einem Zettelkasten und wurde in den letzten Jahren von Programmen wie EndNote oder LitLink abgelöst.

Mit Web 2.0 – oder in diesem Fall eher von Library 2.0 – können wir eine Entwicklung beobachten, die weg führt von lokal installierten Programmen hin zu Web-Diensten wie etwas BibSonomy. Damit entfällt die Transferleistung vom Katalog/Bibliographie in eigene Datensammlung. Hinzu kommen aber zwei neue Optionen: Erstens die Möglichkeit, eine nicht-hierarchische Sacherschliessung kollaborativ zu erstellen («social bookmarking» mit Hilfe von «folksonomies»). Zweitens die Möglichkeit, die eigenen Daten offen oder kontrolliert mit anderen Forschern zu teilen.

Beide Möglichkeiten werden erst zögerlich genutzt und es scheint mir alles andere als sicher, dass sich diese Praktiken durchsetzen werden. Zumindest im Bereich der Geschichtswissenschaft bilden bibliographische Daten, vor allem wenn sie unveröffentlichtes Archivmaterial betreffen, das eigentliche Kapital der wissenschaftlichen Arbeit.

Die Zurückhaltung, diese Daten offenen Gemeinschaften zur Verfügung zu stellen, scheint mir zumindest nachvollziehbar zu sein. Die Diskussionen, die wir in den letzten Jahren bei der Konzipierung und Entwicklung von LitLink geführt haben, bestätigen diese Vermutung: bibliographische Daten werden nicht gerne geteilt und grundsätzlich möchte man diese Daten auch nicht ungeschützt auf einem Server abgelegt haben.

Es steht sicherlich ausser Frage, dass der Trend in Richtung Netzwerke und gemeinschaftliches Arbeiten geht. Und dies ist auch unbedingt zu begrüssen und zu unterstützen. Bei der weiteren Arbeit an bibliographischen Tools der Zukunft ist es aber meiner Ansicht nach unerlässlich, auf die unterschiedlichen Kulturen der verschiedenen Disziplinen sehr genau einzugehen. Dies betrifft vor allem auch die sehr unterschiedlichen Traditionen des kollaborativen Arbeitens. Es scheint, dass gerade in den Geistes- und Kulturwissenschaften erhebliche Widerstände auszumachen sind, die man nicht einfach ignorieren kann und soll.

Konkret bedeutet dies, dass es auch in Zukunft sehr verschiedene Umgangsformen mit der Grundressource Bibliographie geben wird und dass es vor allem auch Tools braucht, welche in der Lage sind, auf solche Differenzen zu reagieren. BibSonomy zum Beispiel hat diesen Ansatz ganz offensichtlich aufgenommen und bietet recht differenzierte Möglichkeiten der Rechte-Verwaltung.

Die Technik macht heute sehr vieles möglich und viele von uns sind, so wie ich auch, davon fasziniert. Das bedeutet aber nicht, dass wir Traditionen und Rituale der Wissenschaft ausser acht lassen sollten. Die Möglichkeiten des Cyberscience sind faszinierend und wir können schon heute beobachten, dass fast alle Bereiche des wissenschaftlichen Arbeitens von der Digitalisierung verändert werden.

Auch die wissenschaftliche Grundtechnik des Bibliographierens hat sich bereits verändert und wird sich in den nächsten Jahren noch weiter verändern. Vergessen wir dabei aber nicht, dass wir uns nicht von den Möglichkeiten der Technik leiten lassen sollten, sondern immer wieder die Frage stellen müssen, was wir eigentlich brauchen und was nicht. Und schliesslich: Es braucht Kompetenzen, um mit diesen vielen neuen Tools sinnvoll umgehen zu können, und es braucht ein Nachdenken darüber, was wünschenswert ist und was nicht.

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