GMW 07: Halluzinatives Lernen oder: the reality gap

Hier an der Tagung wird mit Schlagworten um sich geschlagen ohne Ende: alles und jeder will irgendwie mit web 2.0 zu tun haben und auf Teufel komm raus wird jedem Konzept und jeder Anwendung das Etikett „web 2.0“ umgehängt, was zu kuriosen Situationen führt, etwa, wenn der Vertreter von Sun den automatischen Ausdruck eines Prüfungsfragebogen nach Login des Studierenden als „web 2.0“-Anwendung anpreist…. Bezeichnenderweise ist in diesem Falle das Kürzel „2.0“ schon nicht mehr genug, bereits wird die Endung „3.0“ an den Projekttitel angefügt. Da wird aus dem „partizipativen Lernen“ zumindest bei mir als Tagungsteilnehmer schon mal ein halluzinatives Lernen.

Was heisst schon „partizipatives Lernen“, das allerorten angepriesen wird und einer Sektion den Titel gab? Gibt es „unbeteiligtes Lernen“? Wird da der klassischen Frontal-Situation in Bildungsszenarien nicht zuviel Passivität auf Seiten der Zuhörer unterstellt – und umgekehrt: wie partizipativ ist denn das Lernen, wenn die Schüler/Studierenden „eigenaktiv“ lernen: können sie über Lerninhalte, Methoden usw. mitbestimmen? Ist hier die Einführung von web 2.0-Technologien nicht einfach Augenwischerei?

Zudem: hier an der Tagung wird zwar dauernd behauptet, dass digitale Technologien in Bildungsprozessen innovativ und erfolgreich eingesetzt werden – aber wie ist das denn mit der Tagung selber? Werden hier web 2.0 Technologien in Wert gesetzt und innovativ und erfolgreich angewendet? Man könnte weinen, wie hier im Jahr 2007 immer noch eine Tagung zu e-Learning durchgeführt wird, als wären die Kommunikationstechnologien in den letzten 15 Jahren stehen geblieben. Was wir sehen, sind animierte Powerpoint-Folien mit integrierten audiovisuellen Elementen – das war’s. Einen Weblog der Tagung? Gar eine Einbindung diverser Weblogs über RSS auf die Website? Feedback- oder Kommentar-Funktionalitäten auf die jeweiligen Vorträge? Aufzeichnungen der Vorträge? Möglichkeiten, live mit geeigneten web 2.0-Hilfsmittel eine Diskussion zu gestalten (Fragen sammeln, strukturieren, Inhalte sammeln)? Fehlanzeige. Sogar die Stimmen für den Publikumspreis für die Medida-Prix-Finalisten werden vollanalog mit Zettel eingesammelt – und die GMW-Verantwortlichen verteilen zwecks Mitgliederwerbung Ausdrucke des Online-Anmeldeformulars. Kurzum: kein Digital Divide – aber ein eklatanter Reality Gap, ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Immerhin werden irgendwann einmal Video-Aufzeichnungen der Präsentationen zur Verfügung gestellt werden – aufgenommen jedenfalls wurde was, und um Erlaubnis gefragt wurde ich auch. Mal sehen. (Nachtrag: Aufzeichnungen von fast allen Vorträgen stehen nun auf der GMW07-Website zur Verfügung).

Unterdessen halluziniere ich mit Kollegen über mögliche satirische Auszeichnungen wie „Most Ugly Powerpoint Presentation Award“ oder „Preis für den besten Vortrags-Titel mit der geringsten Verbindung zum Inhalt des Vortrags“, ev. noch zu ergänzen mit „uninspirierteste Moderation“, „dreisteste Werbung in eigener Sache“ oder „unverschämtester Zeitüberzug“ oder auch „Medien-Inkompetenz“.

Und doch (das mag jetzt harmoniesüchtig wirken): die Tagung hat mir einige Anregungen vermittelt zu der Art und Weise, wie digitale Medien in Lehre (und auch in Forschung) von Geschichte eingesetzt werden kann. Diese Anregungen beziehen sich auf konkrete Möglichkeiten, wie Studierende mit eigenen Projekten und mit eigener Verantwortung an ihrem Bildungsvorgang teilhaben (und zwar womöglich in einer überraschenden Art und Weise…). Interessant, dass mit dem Portfolio ein eigentlich altes, schon etwas aus der Mode gekommenes Konzept zur Dokumentation von Lernprozessen nun in digitaler Form des ePortfolios wieder ein Revival erlebt. Das Motto: selbstbestimmte Leistungsdarstellung statt fremdbestimmte Leistungsfeststellung. Doch wie selbstbestimmt ist diese Darstellung wirklich? Und dieser marktwirtschaftliche Wettbewerbs-Leistungsgedanke, der sich hinter dem Portfolio-Gedanken bisweilen verbirgt, stimmt mich doch etwas nachdenklich (siehe auch Eintrag zu Tag 2, sowie die weiteren Einträge zu GMW 07).

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