N’oubliez pas le guide

Irgendwann Anfang der 80er Jahre besichtigte ich als Teenager mit Eltern und Bruder die Wehranlagen von Carcassonne. Oder, präziser: Ich nahm an einer Führung teil. Ich verstand zwar kein Wort dessen, was der „guide“ (oder die „guide“, denn es war eine Frau) uns über die historische Bedeutung der Stadtmauern mitteilen wollte, jedenfalls erinnere ich mich nicht mehr (Stichwort „Vergessen“). Woran ich mich aber erinnere war der obligate Spruch am Ende der Führung, der in Frankreich zur stehenden Redewendung geworden ist: „N’oubliez pas le guide!“ Die Aufforderung, das Nicht-Vergessen nicht zu vergessen, war nicht als Bitte gemeint, die Führung in guter Erinnerung zu behalten, sondern wollte sicherstellen, dass der Person, welche die Führung durchgeführt hatte, beim Abschied ein Trinkgeld entrichtet würde.

Die Episode fiel mir ein bei der Vorbereitung für einen Workshop, den ich an der Fachtagung „Geschichtsvermittlung am originalen Schauplatz“ moderieren soll, die am 16. und 17. Oktober im Rahmen der 700-Jahr-Feierlichkeiten des Klosters Königfelden stattfindet. Der Workshop (als einem von acht) soll sich mit der Frage befassen: „Hat Historisches Lernen am originalen Schauplatz angesichts von Wikipedia, TV-Dokumentationen und Online-Museen noch Zukunft?“ Ich meine: Ja.

Das Web als Reiseführer
Ich habe die These nie geteilt, dass die Möglichkeit, sich per Web über historisch bedeutsame Orte auf der ganzen Welt multimedial und bis ins Detail zu informieren, dazu führen wird, dass die Menschen diese Orte nicht mehr besuchen wollen. Ich bin sogar eher vom Gegenteil überzeugt. Was sich verändern mag, ist die Vorbereitung auf einen entsprechenden Besuch: Google Maps oder Google Earth, nicht selten aber auch die Institutionen selbst, die die jeweiligen Orte, Gedenkstätten, Sehenswürdigkeiten und Baudenkmäler betreuen, bieten im Web einen anschaulichen Einblick in die Situation vor Ort. Hier übernimmt das Web eher Funktionen von (gedruckten) Reiseführern, als dass es das reale Erleben vor Ort ersetzte. Dass die Reiseführer in Buchform noch immer reichlich beliebt sind, liegt wohl daran, dass sich die Informationen aus dem Web bislang nur in ausgedruckter Form mitnehmen liessen – ohne die zugehörigen multimediale oder interaktive Funktionalitäten.

Mobile Computing (I): Google Goggles
Mobile Computing verändert diese Situation massgeblich. Die multimedialen Informationen können einerseits mitgenommen werden, etwa durch entsprechend aufbereitete Produkte, die die Verlage für die Verwendung auf Smartphones herstellen – eine Art digitale Reiseführer im Mobiltelefon-Format. Dank mobilem Internet können die Informationen sogar erst vor Ort abgerufen werden. Wikipedia und Co. ersetzen also nicht den Gang zu den Schauplätzen der Geschichte, sie begleiten diesen Gang.

Doch dank mobilem Internet sind weitere Nutzungsformen möglich. Vor einigen Tagen hat Google ein neues App (Miniprogramm für Smartphones wie z.B. das iPhone oder Mobiltelefone mit Android-Betriebssystem) namens „Google Goggles“ veröffentlicht, mit dem eine Google-Suche mit einem Foto ausgelöst werden kann. Im Promo-Video für die Lancierung der iPhone-Version (siehe unten) fotografiert der Präsentator eine Sehenswürdigkeit in San Francisco, löst mit dem Foto eine Google-Suche aus, die dann die Informationen zu diesem Gebäude liefert. Was in der Praxis (vor allem in der Schweiz) noch gewaltig holpern dürfte (die gesuchten Gebäude müssen eindeutige Merkmale haben und aus einer Perspektive fotografiert werden, die Vergleiche mit dem bestehenden, von Google indizierten Bildmaterial ermöglicht), weist aber auf eine mögliche zukünftige Form hin, wie wir uns über Dinge, die uns umgeben, informieren – selbst wenn wir nicht wissen, wie diese Dinge heissen. Das ist nicht nur für Gebäude denkbar, sondern für alle möglichen Objekte: Google selber zeigt im Promo-Video, wie ein Buchcover oder eine Weinetikette als Basis für eine Google-Suche genutzt werden kann (konkrete Anwendung wohl: Im Buchladen ein Buch scannen, die Rezensionen googlen und dann bei Amazon bestellen…).

Mobile Computing (II): Mobile Tagging
Schon länger möglich ist die Abfrage von Informationen zu Objekten oder Schauplätzen via mobile Internet-Geräte durch Tags, das so genannte Mobile Tagging. Dabei handelt es sich um zweidimensionale Bar-Codes, die mit dem Mobiltelefon fotografiert und von einem entsprechenden auf dem Telefon installierten Programm decodiert werden können. Das Mobiltelefon ruft dann anhand der im Bar-Code des Tags vorhandenen Informationen im Internet die entsprechenden Informationen auf. Diese Anwendung der Kopplung von Internet-basierten Informationen mit Objekten in der realen Welt ist schon länger möglich. Auf breiter Front durchgesetzt hat es sich bislang noch nicht, aber es ist denkbar, dass sich dies mit dem allgemeinen iPhone- und Smartphone-Hype noch ändern wird.

Mobile Computing (II): GPS-basierte Dienste
Die zunehmende Ausstattung von Mobiltelefonen mit GPS-Empfängern ermöglicht überdies eine Kopplung von Informationen, die aus dem Internet bezogen werden können, mit dem aktuellen Standort des jeweiligen Mobiltelefons. Google Maps ist als Kartenapplikation für Mobiltelefone schon so ausgerichtet, dass der eigene Standort in Echtzeit immer auf der Karte angegeben wird – wenn man das wünscht. Damit wird à la longue die Eingabe von entsprechenden Informationen (sei es ein Foto oder ein Mobile Tag) unnötig: Man klickt auf der Kartenapplikation, die auf dem Mobiltelefon installiert ist, auf den eigenen Standort – oder, noch einfacher, man aktiviert die Funktion zur Anzeige von Zusatzinformationen im Kameramodus – und die Informationen werden je nachdem, wie man das Gerät hält, gleich passend zur Umgebung eingeblendet. Wie das in etwa gehen könnte, veranschaulicht der kurze Promo-Film zur App der Pariser Métro:

Die Frage der Deutungshoheit
Was Mobile Tagging mit anderen Formen der „Augmented Reality“ (m.E. ein zweifelhafter Begriff, der für computer- und/oder internetbasierte Einbindung von zusätzlichen Informationen in realweltliche Umgebungen steht, an der Fachtagung wird hierzu beispielsweise das Projekt LifeClipper vorgestellt) verbindet, ist die Möglichkeit, als Autor/in Einfluss darauf zu nehmen, was die Betrachter/innen für zusätzliche Informationen zu einem Ort, bzw. zu einem Schauplatz an Informationen zur Kenntnis gebracht wird. Bei Google Goggles entscheidet Google. Und oft führt dies zu Wikipedia.

Smartphone und mobiles Internet treten nun also nicht mehr nur in Konkurrenz zum gedruckten Reiseführer, der der Reisevorbereitung dient, sondern auch zu den vor Ort anwesenden Fachperson, die im Rahmen einer Führung oder (mittelbar) durch Ausstellungselemente (Flyer und Broschüren, Hinweistafeln, ausgeschilderte Rundgänge etc.) ihr Wissen über den Schauplatz weitergeben. Müssen sich nun auch noch die Museumspädagogen und Ausstellungsführer/innen mit dem omnipräsenten Internet herumschlagen („Sie, in Wikipedia steht das aber anders…“), bzw. müssen die Lehrpersonen jetzt nicht nur im Schulzimmer und bei den Hausaufgaben, sondern auch noch bei Exkursionen der geballten Wikipedia-Macht Paroli bieten? Ein weiterer Bereich, indem die Laien die Kontrolle über die Deutungshoheit übernehmen?

Chancen und Risiken für den „originalen Schauplatz“
Betrachten wir es etwas weniger polemisch zugespitzt: Die Attraktivität des „originalen Schauplatzes“ kann durch Anwendungen des mobile computing auch gewinnen. Einerseits lassen sich Szenarien einsetzen, in denen beispielsweise Schüler/innen auf eigene Faust (aber mit konkreten Aufträgen) die Schauplätze erkunden. Das setzt dann aber auch voraus, dass die Ergebnisse nicht nur zur Kenntnis, sondern in Bezug auf ihre Herkunft und Gewichtung diskutiert werden können, wenn dies nötig ist. Und um zu entscheiden, ob dies nötig ist, braucht es eben den oder die fachlich und didaktisch geschulte/n Expert/in. Gut möglich, dass die Schüler/innen trotz Google Goggles und Mobile Tagging die gestellten Fragen nicht restlos klären oder sich nicht auf eine Antwort einigen konnten. Der originale Schauplatz wird dann (idealerweise) zu einer kleinen Agora, auf der unterschiedliche Deutungen erörtert werden können.

Gilt das auch für Erwachsene, die originale Schauplätze besuchen? Nun, ich bin der Auffassung, dass es immer Menschen geben wird, die sich gerne etwas über einen Ort erzählen lassen. Was nicht ausschliesst, dass sie nicht gleichzeitig auch noch Informationen aus dem Internet abrufen – womöglich, um diese dann mit Reiseführer zu besprechen.

Mal sehen, was die Workshop-Teilnehmenden hierzu denken. A continuer

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