Der Krach in der Wikipedia oder: Die soziale Bewegung, die eine Enzyklopädie sein will

Wir hatten kurz darüber berichtet, dass in der deutschen Wikipedia-Trägerschaft zur Zeit die Fetzen fliegen. Es geht um Bürokraten und Spendengelder, um Basis und Mitsprache. Kurz: Es geht um die Fragen, die in jeder sozialen Bewegung, wenn sie eine bestimmte Grösse erreicht hat, aktuell werden. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist voller Beispiele von sozialen Bewegungen, die Fraktionen bilden, sich aufspalten, bekriegen, verbürokratisieren etc. etc. Als ich in den 80er Jahren mit meinem Soziologiestudium begann, war die Analyse «Neuer sozialer Bewegungen» übrigens gerade eines der neueren Modethemen. Ein Literaturtip dazu: Brand, Karl-Werner / Buesser, Detlef / Rucht, Dieter: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der BRD, Frankfurt am Main 1986 (@ Kollega Hodel: ja, ich habs gelesen, die meisten Teile zumindest).

Was nun in der Wikipedia passiert, läuft nach dem bekannten Muster ab: Eine soziale Bewegung von unten formiert sich, wie immer mit dem Anspruch auf flache Hierarchien und weitgehende Transparenz. Nach einer bestimmten Phase der unkoordinierten Euphorie beginnen sich aber – zumeist qua Gewohnheitsrecht – bestimmte Strukturen herauszukristallieren. Plötzlich sind in der Bewegung nicht mehr alle gleich, einige sind gleicher geworden. Diese Gleicheren verfügen über strukturelle Macht, symbolisches Kapital und vor allem über Zugriff auf Geld und Informationen.

Da bei erfolgreichen sozialen Bewegungen immer auch nach einer Latenzphase Geld zu fliessen beginnt, geht es um die Frage der Mittelzuteilungen. Im vorliegenden Fall kam das Spannungsverhältnis zwischen der internationalen Bewegung und dem lokalen Ableger hinzu. Nun ist es zu einem Krach gekommen, die Apparatschiks hatten einen Plan ausgeheckt, wie sie auf legale (wenn auch nicht legitime) Weise möglichst viel ihres Einflusses gegen die Begehrlichkeiten der Zentrale (die Foundation in den USA) retten können, die Basis fühlte sich übergangen, die Machenschaften sickerten durch und es kam, wie es kommen musste: die Wikipedianer zoffen sich unter teilnehmender Beobachtung der Netzbewohner über vereinsmeierische Nichtigkeiten.

So weit so schlecht. Und irrelevant.

Relevant ist diese Episode eigentlich nur, wenn man den Charakter von Wikipedia verstehen will. Wikipedia ist keine Enzyklopädie, sondern eine soziale Bewegung. Wikipedia ist auch keine relevante Grösse in der Wissensgesellschaft, wenn man ihren nominellen Beitrag betrachtet. Spannend ist aber Wikipedia deswegen, weil es an der Schnittstelle der alten sozialen Bewegungen und der Web 2.0-Gesellschaft operiert.

Wikipedia war nicht nur der lange Zeit grösste Feldversuch des Web 2.0, sondern war – wie die aktuellen Debatten zeigen – eben auch Teil der alten Protestkultur der Nachkriegsgesellschaft. Facebook, das seit einigen Monaten in seiner Flächenwirkung und in seiner gesellschaftlichen Relevanz Wikipedia überholt hat, funktioniert ausschliesslich nach den Vorgaben des digitalen Kapitalismus. Die Protestmechanismen, die dort zu beabachten sind, laufen deshalb völlig anders. Das System Facebook bietet – zu seinem grossen Vorteil – eben keine Möglichkeit, auf die Mechanismen der analogen Welt zu rekurrieren.

Insofern ist das, was wir zur Zeit bei Wikipedia erleben, die vermutlich letzte grosse hybride Auseinandersetzung um Macht und Einfluss im Netz mit den Mitteln der analogen Welt.

(Für diejenigen, die die Wikipedia-Affäre im Detail nachlesen wollen: Hier ein guter Einstieg von simplicius mit weiterführenden Links, gefunden wie so oft bei archivalia.)

5 Gedanken zu „Der Krach in der Wikipedia oder: Die soziale Bewegung, die eine Enzyklopädie sein will“

  1. Hmm, ob die Bewegungsmetapher auf die Wikipedia wirklich passt? Mir erscheint insbesondere die These, dass es sich hier um die „Protestkultur der Nachkriegsgesellschaft“ (das sind die, die grade wieder zu 200.000 in München und Stuttgart auf die Straße gegangen sind) handle, nicht so ganz einleuchtend. Das Milieu passt nicht, wirklich nicht. Insofern: Institutionalisierungsprozess ja, soziale Bewegung nein.

  2. „einen Plan ausgeheckt, wie sie auf legale (wenn auch nicht legitime) Weise möglichst viel ihres Einflusses gegen die Begehrlichkeiten der Zentrale (die Foundation in den USA) retten können“

    Ich bin kein Fan des Vereins, aber das ist nun wirklich Unfug. Es ist ein Plan, wie auf legale Weise überhaupt etwas des hier eingesammelten Spendengeldes an die Foundation in die USA weitergereicht werden darf.

  3. Das hätten sie vielleicht erstmal fragen sollen, als sich ihre Antworten selbst zusammen zu basteln.

    Also Herr Haber, ich war nicht immer ihrer Meinung, aber ich fand sie immer recht sympathisch. Aber das hier ist wirklich der Bodensatz, den sie erreicht haben. Soviel zur Wissenschaft. Sie sind mittlerweile Teil dieser Unkultur, die sie beklagen. Nur weil man so tut, als würde man nicht dazu gehören, heißt es noch lange nicht, daß dem so wäre. Sie haben jetzt dieses „Schäufelchen“-Niveau erreicht. Ernst nehmen kann ich das nicht mehr. Aber es ist bezeichnend, daß ihre Verschwörungstheorie ausgerechnet mit einem Link der auf eine Benutzerseite des „Mitarbeiters“ Simplicius verweist (sie hätten sich erstmal die Beiträge, insbesondere die zu historichen Themen ansehen) endet. Und sie brauchen auch nicht echauviert zu antworten wie schlimm die Welt im allgemeinen und speziell die bösen Wikipedianer sind (ich kenne die Zustände in der akademischen Welt, dagegen ist Wikipedia harmlos), ich bin eh raus hier. Das Niveau ist im Keller, ich brauche hier nicht mehr mit zu lesen. Statt Sachlickeit persönlich motivierte Ergüsse. Das kann ich auch gut in der Wikipedia haben. Aber dort steht es wenigstens auf den Diskussionsseiten und nicht in den Artikeln. Und auf wen der Schwanengesang hier gesungen werden muß, werden wir noch sehen.

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