Wikipedia und politische Bildung

Im Kontext der politischen Bildung ist Wikipedia bislang noch kaum thematisiert worden. Eine gewisse Besorgnis erregen die sporadisch erscheinenden Berichte über Versuche von rechtsextremen Kreisen, die Wikipedia systematisch zu unterwandern, indes schon. Hier reiht sich die Wikipedia ein in die generelle Wahrnehmung des Internet als potentieller Hort von Hass- und Gewalt-Darstellungen, vor denen die Jugendlichen entweder geschützt oder gewarnt werden sollen. Weitere Bemühungen gehen in die Richtung, die Schülerinnen und Schüler zu einem gefassten, oder, wie es im aktuellen Bildungsjargon heisst, “kompetenten” Umgang mit den Informationen aus dem Internet – und damit auch aus Wikipedia – zu schulen. (Crosspost von cpov-Blog)

Dieser Wahrnehmung von Wikipedia (und dem Internet allgemein) liegt eine Furcht vor unkontrollierbaren, aber zugleich ungemein wirkungsmächtigen Wissensagenten zugrunde, die einerseits die Macht haben, Jugendliche in ihrer Wahrnehmung und in ihren Einstellungen zu beeinflussen, umgekehrt aber anfällig sind auf Fehlinformationen und offen für Beeinflussungen durch extremistische Gruppierungen am Rand der Gesellschaft.

In der Tat macht ihre offene Struktur die Wikipedia anfällig für Manipulationsversuche, wobei die Bericht darüber ihrerseits darauf hindeuten, dass diese Manipulation aufgedeckt werden kann. Die grundsätzliche Kritik an den undurchsichtigen Entscheidungsstrukturen in der Wikipedia und am selbstherrlichen Gebaren von Administrator/innen, die sich hinter Pseudonymen verstecken können, ist von Maren Lorenz eindrücklich geschildert worden. Demgegenüber stehen die Untersuchungen, die zum Schluss kommen, dass die Wikipedia kaum mehr Fehler aufweist als vergleichbare, herkömmliche Enzyklopädien (Giles, Rosenzweig).

Es trifft zu, dass Wikipedia bei den Jugendlichen von zentraler Bedeutung für die Informationsgewinnung ist. Diesen Befund, den jüngst auch Schmidt et al. berichtet haben, wird durch die Untersuchungen im Rahmen eines Dissertationsvorhaben bestätigt, bei dem Jugendliche zur Nutzung des Internet für historische Recherchen befragt und dabei beobachtet wurden. Dort zeigt sich aber auch, dass die Jugendlichen sich grundsätzlich der Manipulierbarkeit von Wikipedia (“da kann jeder reinschreiben”) bewusst sind. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Jugendlichen dazu neigen, jene Informationen aus Wikipedia (und aus dem Internet generell) ungefragt als gegeben und richtig zu übernehmen, die zu ihren eigenen Vorstellungen und Einstellungen passen. Falls ihnen eine Aussage fragwürdig erscheint und nicht in den Kontext von Informationen aus Familie, Schule und Peer-Group passen, greifen sie auf Verifizierungspraktiken zurück (Vergleich mit anderen Informationsquellen im Internet oder Befragung von Vertrauenspersonen) oder nutzen die Informationen unter Vorbehalt. Sie erleben jedoch selten, dass Informationen aus der Wikipedia sich im Alltag als falsch oder irreführend erweisen. Im Gegenteil wird immer wieder von Erfahrungen aus dem Bekanntenkreis berichtet, dass Versuche, in der Wikipedia Unsinn zu platzieren, relativ schnell abgeblockt und gelöscht werden.

Für den Alltag politischer Bildungsanstrengungen empfiehlt sich folglich eine unaufgeregte Herangehensweise an das Phänomen Wikipedia, die jedoch nicht versäumt, aufgrund der Entstehungsweise der Online-Enzyklopädie einen vorsichtiges Umgang mit den Wissensbeständen zu verlangen. Zugleich bietet aber auch die Wikipedia selbst Stoff für politische Bildung. Einerseits ist die Organisation von Wikipedia ein Beispiel für die Verteilung und Anwendung von Macht. Auch wenn die Wikipedia sich dem “freien Wissen” verschreibt und alle auffordert, an der Erstellung und Erweiterung der Online-Enzyklopädie mitzuwirken, so sind hier auch Machtstrukturen wirksam. Deren Ausgestaltung zu analysieren (wie dies Lorenz aber auch Stegbauer und Pentzold aus je ganz unterschiedlichen Blickwinkeln begonnen haben), vermag dann weniger im Hinblick auf eine Warnung vor der mangelnden Qualität, sondern im Hinblick auf sehr besondere Ausprägungen von Strukturen und Prozessen der Macht eine erhellende Wirkung zu entfalten. Eine solche Analyse sollte folglich auch über die Wikipedia selbst hinausgehen und auch die Kritik an der Online-Enzyklopädie umfassen: Wem macht die Online-Enzyklopädie in welcher Hinsicht die Deutungshoheit über das Wissen der Welt streitig?

Für die politische Bildung scheint dabei eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Wikipedia-Vorgabe des Neutralen Standpunkts (NPOV) besonders lohnend zu sein. Die Wikipedia sieht unter dem Grundprinzip des neutralen Standpunkts folgendes vor: “Ein Artikel und dessen Unter-Artikel sollen alle unterschiedliche Standpunkte, Meinungen und Streitigkeiten eines Themas klar beschreiben und charakterisieren, ohne einen bestimmten Standpunkt zu befürworten” (vgl. Wikipedia: Neutraler Standpunkt, Version vom 18. September 2010, 08:33). Ist ein solches Vorgehen schon grundsätzlich nicht einfach zu realisieren, da im Einzelfall immer strittig sein kann, welche Standpunkte mit welcher Gewichtung zu berücksichtigen sind, so wird dieses (an sich kaum zu bestreitende) Grundprinzip problematisch für Themenbereiche, die Grundwerte gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffen. Der Holocaust, um ein akzentuiertes Beispiel zu nennen, kann in unserer westlichen Wertegemeinschaft nicht “neutral” dargestellt werden. Ein Versuch, dies zu tun, ist daher ein hochgradig politisches Ansinnen, auch wenn es in Anspruch nimmt, Ausgewogenheit und Objektivität zu erreichen. Die Forderung nach “Objektivität” ist dann zuweilen eben alles andere als neutral und objektiv. Diese Problematik beschränkt sich dabei nicht auf eindeutige Themen wie den Holocaust. Selbst der Artikel zum “Neutralen Standpunkt” in der Wikipedia selbst unterliegt dem Vorbehalt, nicht den Ansprüchen der Neutralität zu genügen.

Die Angst vor einer schleichenden Indoktrination durch die unkontrollierten Wissensbestände in der Wikipedia scheint unbegründet – nicht nur, weil die zentralen Artikel von politischer Tragweite in ihren Aussagen unter starker Beobachtung stehen und deshalb kaum falsche oder abweichende Informationen enthalten, sondern auch, weil die Jugendlichen selber in der Regel die Wikipedia nicht als einzige Informationsquelle nutzen und die Informationen daraus nicht gänzlich naiv zum Nennwert nehmen. Die Einstellungen und Wertvorstellungen der Jugendlichen werden nicht in Wikipedia geprägt – höchstens bestätigt. Dennoch lohnt sich, Wikipedia und ihre Nutzung immer wieder einmal als Ausgangspunkt im politischen Unterricht zu nutzen, um über die Entstehung von Wissensbeständen und die darin enthaltenen Wertungen und Gewichtungen nachzudenken. Gerade hierfür bietet sich Wikipedia als idealer Ausgangspunkt und Untersuchungsgegenstand an.

Literatur

  • Giles, Jim: Internet encyclopaedias go head to head. In: Nature 438 (2005), S. 900-901.
  • Lorenz, Maren: Wikipedia. Zum Verhältnis von Struktur und Wirkungsmacht eines heimlichen Leitmediums. In: WerkstattGeschichte 43 (2006), S. 84-95.
  • Lorenz, Maren: Wikipedia als “Wissensspeicher” der Menschheit – genial, gefährlich oder banal?. In: Meyer, Erik: Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt 2009, S. 207-236.
  • Pentzold, Christian: Wikipedia – Diskussionsraum und Informationsspeicher im neuen Netz, München 2007.
  • Schmidt, Jan; et al. (Hg.): Heranwachsen mit dem Social Web: zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Berlin 2009.
  • Rosenzweig, Roy: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past. In: Journal of American History 93 (2006), Nr. 1, S. 117-146.
  • Stegbauer, Christian; Rausch, Alexander: Wikipedia. Das Rätsel der Kooperation, Wiesbaden 2009.

Anmerkung:

Der Beitrag erschein zuerst im Blog zur Tagung „Wikipedia – ein kritischer Standpunkt„, die nächste Woche in Leipzig stattfindet und an der Peter Haber am Samstag als Referent teilnehmen wird.

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